Der Überlieferung nach war der Heilige St. Gallus ein irischer Wanderprediger, der sich um das Jahr 610 an einem Ausläufer des Bodensees niedergelassen haben soll. Zuvor will er ein „göttliches Zeichen“ erhalten haben. Der „Grundstein“ für die spätere Schweizer Stadt St. Gallen war gelegt. „Was macht jedoch den Zauber aus, den St. Gallus auf die Bürger der Stadt Gallen ausübt und der ein magischer Anziehungspunkt für Besucher ist, sodass man ihm auf Schritt und Tritt begegnet?“, fragt sich Wahlschweizer Michael Oehme.

Michael Oehme über das Wandgemälde vom heiligen St. Gallus im Kirchenschiff der Filialkirche St. Venantius, Pfärrenbach, Gemeinde Horgenzell, Schweiz - Photo: Andreas Praefcke, Public domain, via Wikimedia Commons

Wandgemälde vom Heiligen St. Gallus im Kirchenschiff der Filialkirche St. Venantius, Pfärrenbach, Gemeinde Horgenzell, Schweiz – Photo: Andreas Praefcke, Public domain, via Wikimedia Commons

Michael Oehme: St. Gallen ohne Gallus undenkbar

Die Besucherzahl St. Gallens sprengte 2023 jeden Rekord. Mit ein Grund ist die Anziehungskraft, die der Stadtheilige Gallus mit sich bringt“, erklärt Michael Oehme. So stieg die Zahl der Logiergäste auf die Rekordzahl von 334.390. Hinter einheimischen und deutschen Gästen machen US-Amerikanerinnen und -Amerikaner inzwischen die drittstärkste Besuchergruppe aus. „Sie lassen es sich hier gut gehen“, sagt Thomas Kirchhofer, Direktor von St. Gallen Bodensee-Tourismus. Wer durch die Strassen der historischen Stadt schlendert, dem fällt eine Person besonders auf: St. Gallus.

Ob Gallus Apotheke, Gallus Kindergarten, die Kirche St. Gallus am Gallus Markt – ja, sogar ein Einkaufszentrum trägt seinen Namen. Und wer sich in der Confiserie Roggwiller am Klosterplatz einen Kaffee oder Tee gönnt, der sollte nicht versäumen, eine typische St. Galler Spezialität mit einem Abdruck eines original St. Galler Klostersiegel – natürlich mit dem Gallus – zu probieren. Und wie es sich für einen Stadtheiligen gehört, hat Gallus sogar einen eigenen Gedenktag, den 16. Oktober.

Michael Oehme: Wer war der Wanderprediger St. Gallus?

„Da Gallus keine eigene Biografie schrieb, müssen sich Interessierte auf drei vorliegende Biografien verlassen, die in den 200 Jahren nach dessen Tod geschrieben wurden. Sie weichen jedoch deutlich voneinander ab. Allein zur Frage, wann Gallus gelebt haben soll, gibt es unterschiedliche Aussagen. Danach soll er um 550 in Irland geboren worden sein, andere berichten im Raum Vogesen-Elsass. Sein Todestag ist vermutlich der 16. Oktober 640. Nach anderen Quellen könnte er aber auch erst zwischen 646 und 650 eben in der Nähe des Ortes gestorben sein, an dem er einst das Kloster gründete, das dann Ausgangspunkt für die St. Gallen wurde“, so Michael Oehme.

Geschichtlich überliefert ist, dass Gallus um das Jahr 610 in Begleitung des ebenfalls irischen Mönchvaters Columban nach langer Reise am Bodensee ankam. Beide ließen sich am Fuße des Flusses Steinach nieder. Die Steinach entspringt östlich des St. Galler Stadtteils St. Georgen im Steineggwald zwischen Vögelinsegg und St. Georgen. Sie fliesst durch St. Gallen und mündet in der heutigen Stadt Steinach in den Bodensee (Quelle: Wikipedia Steinach (Bodensee)).

Nach heutiger Lesart war Gallus zu erschöpft, um mit Columban und einem weiteren Begleiter nach Italien weiterzuziehen. In der Überlieferung stolperte er über einen Dornbusch, erkannte dies als eine Fügung Gottes und liess sich hier nieder. „Für den Hinweis, dass Gallus gesundheitsbedingt, nicht mehr weiterreisen konnte, spricht jedoch auch die Tatsache, dass Gallus auch der Schutzheilige der Gänse, Hühner und Hähne und der Fieberkranken ist“, erklärt Michael Oehme.

Gallus und das Bärenwunder

„Gallus galt als äußerst mutig. Dies vor allem vor dem Hintergrund, dass die Länder, die er bereiste, überwiegend heidnisch waren. Dabei sind über Gallus viele Geschichten bekannt. So soll er in einem Kloster Fridiburga, die Tochter des alemannischen Herzogs Gunzo geheilt haben“, charakterisiert Michael Oehme den Heiligen St. Gallus. Der Geschichte nach wurde sie von Dämonen heimgesucht und wollte Bischöfe töten.

Schließlich sprach der Dämon aus dem Körper der Fridiburga zu den Mönchen und sagte, dass nur Gallus ihn austreiben kann, weil dieser auch schon an anderen Orten die Dämonen vertrieben habe. Gallus legte, nachdem er vom Herzog die Erlaubnis bekommen hatte, das Mädchen zu besuchen, seine rechte Hand auf ihren Kopf. Daraufhin entwich der Dämon in der Gestalt eines schwarzen Vogels aus dem Mädchen (Quelle: Der Heilige Gallus).

Der Bär ist auf dem Wappen der ehemaligen Fürstabtei St. Gallen, Schweiz.

Der Bär ist auf dem Wappen der ehemaligen Fürstabtei St. Gallen, Schweiz.

 

Eine andere Geschichte erzählt von einem Bärenwunder. Als Gallus auf seinen Reisen mit seinem Mönchvater Columban glaubte, dass dieser schliefe, fiel er in tiefe Gebete und sprach dem Herrn andächtige Gebete. So merkte er kaum, dass sich ein Bär von den Essensresten der Reisenden angezogen fühlte. Als Gallus den Bären vor sich sah, soll er nicht etwa geflohen sein, sondern befahl dem Bären „im Namen des Herren“, er solle ein großes Stück Holz holen und ins Feuer werfen, was dieser getan haben soll.

Als Dank gab er dem Bären einen Laib Brot mit den Worten: „Im Namen meines Herren, Jesus Christus, weiche aus diesem Tal und du sollst die Berge und die darum legenden Berge in der Weise mit uns gemeinsam haben, dass du hier keinen Menschen und kein Stück Vieh verletzt.“ Columban, der seinen Schlaf nur vorgetäuscht hatte, soll sich daraufhin erhoben und gesagt haben, (was er später veröffentlichte): „Nun weiß ich, dass der Herr wahrlich mit dir ist, weil dir sogar die Tiere der Einöde gehorchen“.

Die Kathedrale in St. Gallen wurde im 18. Jahrhundert an der Stelle erbaut, an der die Einsiedelei vom Wandermönch St. Gallus im Jahr 612 gegründet wurde.

Die Kathedrale in St. Gallen wurde im 18. Jahrhundert an der Stelle erbaut, an der die Einsiedelei vom Wandermönch St. Gallus im Jahr 612 gegründet wurde.

Michael Oehme: St. Gallus legt Grundstein für sein Kloster und damit für die Stadt

„Auch ohne PR-Agentur wurde das Wirken von Gallus bald in Nähe und Ferne bekannt. Viele pilgerten an den Ort, den Gallus eigentlich auserwählt hatte, um ein asketisches Leben zu führen“, erklärt Michael Oehme. Er ernährte sich dabei vermutlich überwiegend mit Fisch, den nahegelegene Gewässer boten. Dieser wurde traditionell mit Honig gereicht, woran eine Hausspezialität des Traditionslokals Schlössli erinnert. So erwuchs aus der Eremitensiedlung des Heiligen Gallus das Kloster St. Gallen.

Dieses beteiligte sich maßgeblich am Aufbau christlicher Strukturen in Alemannien. Gleichzeitig förderte das Kloster die Verehrung des Heiligen Gallus, die schon bald weit über die Bodenseeregion hinausreichte. Während Gallus hier zurückblieb, zogen Columban und die übrigen Brüder noch weiter über die Alpen, wo sie das Kloster Bobbio gründeten. Während sich Sankt Gallus um das Jahr 612 am Bodensee niederliess, zogen Columban und seine Begleiter über die Alpen weiter und gründeten in Bobbio noch einmal ein Kloster.

Der Heilige Columban gilt als einer der ›Gründerväter‹ Europas. Auf den Spuren seiner Peregrinatio pro Christo haben die ›Freunde von Sankt Columban‹ einen modernen europäischen Pilgerweg initiiert, den Columbansweg. „Insgesamt kann man sagen, dass sich die Bürger St. Gallens vielleicht auch deshalb mit ihrem Namensgeber und Schutzheiligen St. Gallus identifizieren, da sich beide charakterlich ähnlich sind. Die Schweizer, allen voran die Ostschweizer, sind weltoffen, beherzt, Dinge anzupacken und selbstbewusst, offen und kompromisslos zu diskutieren. Gallus wird somit gleichsam zum Spiegelbild von Charakterzügen, die beide einen“, erklärt Michael Oehme abschließend.